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EuGH bestätigt die Nichtigerklärung der Einstufung von Titandioxid

EuGH bestätigt die Nichtigerklärung der Einstufung von Titandioxid

Mit Urteil vom 23. November 2022 hat das Europäische Gericht (EuG) die Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform gemäß Delegierte Verordnung (EU) 2020/217 für nichtig erklärt.

Im Anschluss an die gegen diese Entscheidung (wir hatten berichtet EuG erklärt harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform für nichtig) durch Frankreich und die Europäische Kommission erhobenen Rechtsmittel hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) heute seine abschließende Entscheidung verkündet. Der EuGH hat die Rechtsmittel zurückgewiesen und damit zugleich das Urteil des EuG bestätigt. Es bleibt damit abschließend bei der Nichtigerklärung der streitigen Einstufung von Titandioxid als karzinogen.

Der EuGH hat zwar festgestellt, dass das EuG im Rahmen der Bewertung und Überprüfung der Einstufung die Grenzen der von ihm vorzunehmenden Kontrolle überschritten habe. Gleichwohl war die Nichtigerklärung der Entscheidung über die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung aus anderen Gründen gerechtfertigt. Das EuG habe nach Auffassung des EuGH zutreffend entschieden, dass der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) nicht alle für die Bewertung der fraglichen wissenschaftlichen Studie relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hatte.

Schlussanträge der Generalanwältin

Die Entscheidung überrascht zunächst vor dem Hintergrund der Schlussanträge der Generalanwältin Tamara Ćapeta vom 06.02.2025. Diese hatte noch vorgeschlagen, das zugrunde liegende Urteil aufzuheben und die Sache an das EuG zurückzuverweisen. Die Generalanwältin war davon ausgegangen, dass das EuG seine Kontrollbefugnis überschritten hat, in dem es seine eigene wissenschaftliche Beurteilung an die Stelle derjenigen der Kommission bzw. des im Vorfeld tätigen Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) der ECHA gesetzt hat. Konkreter Bezugspunkt war dabei die Beurteilung des Phänomens der Agglomeration und die Betrachtung der im Rahmen von Studien zu berücksichtigenden maximal verträglichen Dosis (nach der sog. Morrow-Überlastungsberechnung).

Zudem hat die Generalanwältin ausgeführt, dass das EuG den Begriff der „intrinsischen Eigenschaften“ fehlerhaft ausgelegt und angewandt habe. Das Gericht sei insofern von einem „Zirkelschluss“ ausgegangen, soweit der Begriff als „Eigenschaften eines Stoffes, die ihm eigen sind“ verstanden wurde. Die Generalanwältin war insofern der Auffassung, dass Kommission und RAC auf der Grundlage der Form, der Größe und der schlechten Löslichkeit von Titandioxid zu der Schlussfolgerung kamen, dass bei Einatmen bestimmter Mengen in der Lunge toxische Wirkungen beobachtet werden können, die zur Entwicklung von Tumoren führen, und diese Gesichtspunkte bei richtiger Auslegung unter den Begriff „Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen“ fallen.

Die Generalanwältin hat sich – entgegen des Vorbringens der Rechtsmittelführer – nicht dem Argument angeschlossen, das EuG habe die Grenzen einer verständigen Würdigung vorliegender Beweise überschritten.

Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

Da der EuGH in der überwiegenden Zahl der Fälle den Schlussanträgen der Generalanwaltschaft folgt, hatten die Rechtsmittelführer sich im Verfahren vor dem EuGH zunächst darum bemüht, eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu erwirken. Den entsprechenden Antrag hat der EuGH allerdings recht deutlich zurückgewiesen und betont, dass eine solche Möglichkeit weder in der Satzung des EuGH noch in der Verfahrensordnung vorgesehen sei. Auch seien weitere Gesichtspunkte nicht erörterungsbedürftig gewesen, damit der EuGH über das Rechtsmittel entscheiden konnte.

Entscheidung über die Rechtsmittelgründe

In Bezug auf die vorgebrachten Rechtsmittelgründe hat der EuGH zunächst festgestellt, dass die Entscheidung des EuG nicht auf einer Verfälschung von Beweisen bzw. einer Würdigung vorhandener Beweise, die sich ohne Erhebung neuer Beweise als unzutreffend erweist. Dabei hat der EuGH u.a. betont, dass der RAC im Rahmen seiner Bewertung einigen Daten grundsätzlich größeres Gewicht zumessen kann als anderen, soweit dies auf einer Beurteilung der Zuverlässigkeit, Anerkennung und Beweiskraft beruht. Auch die weiteren Vorbringen der Rechtsmittelführer zur „Maßgeblichkeit“ von bestimmten Studien im Rahmen der Gesamtbewertung hat der EuGH zurückgewiesen und insofern keinen Beurteilungsfehler durch das EuG angenommen.

Auch den Rechtsmittelgrund betreffend die Überschreitung der Grenzen der gerichtlichen Kontrolle hat der EuGH letztlich zurückgewiesen. Zwar folgt der EuGH insofern noch den Überlegungen der Generalanwältin und bestätigt letztlich, dass das EuG fälschlicherweise seine eigene wissenschaftliche Beurteilung in Bezug auf die Anwendung der Morrow-Überlastungsberechnung zugrunde gelegt hat. Allerdings betont der EuGH dass die Entscheidung des EuG sich aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist. Der EuGH stellt fest, das schon der RAC im Rahmen der entsprechenden Berechnung Fehler gemacht habe, soweit relevante Gesichtspunkte wie das Phänomen der Agglomeration nicht hinreichend berücksichtigt bzw. aufgeklärt wurden.

Obschon der Aspekt der Auslegung des Begriffs der „intrinsischen Eigenschaften“ nach dem Urteil des EuG in der öffentlichen Diskussion mit Abstand die meiste Beachtung gefunden haben dürfte, vermeidet der EuGH eine weitergehende Klärung im Rahmen seiner Entscheidung. Denn die entsprechenden Ausführungen seien durch das EuG nur im „Interesse einer geordneten Rechtspflege“ im Urteil behandelt, würden aber gerade keinen tragenden Grund des angefochtenen Urteils darstellen.

Folgen der Entscheidung

Mit der Zurückweisung des Rechtsmittels wird die ursprüngliche Entscheidung des EuG wirksam (vgl. Art. 60 UAbs. 2 der Satzung des EuGH). Die Delegierte Verordnung (EU) 2020/2017 ist damit nichtig, soweit sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm betrifft. Die entsprechende harmonisierte Einstufung ist daher nicht länger nach Art. 4 Abs. 3 CLP bindend.

Betroffene Hersteller und Lieferanten von Titandioxid haben die Einstufung daher unter Berücksichtigung der allgemeinen Anforderungen gem. CLP vorzunehmen. Auf dieser Grundlage sind sodann die Kennzeichnung wie auch die Sicherheitsdatenblätter zu ändern. Es ist insofern nicht erforderlich oder geboten, die Änderung der Informationen zur Einstufung von Titandioxid auf der Website der ECHA abzuwarten. Die Entscheidung des EuGH und die damit verbundenen Wirkungen des Urteils des EuG stehen gerade nicht unter dem Vorbehalt einer Umsetzung durch die ECHA. Betroffene Marktakteure sollten allerdings im Blick behalten, dass im Falle von etwaigen neuen Erkenntnissen auch ein neuerlicher Vorschlag für eine weitergehende harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Betracht kommen kann. Insofern markiert die nun vorliegende Entscheidung des EuGH voraussichtlich nur einen weiteren Zwischenschritt. Weitere Diskussionen und Verfahren zur Einstufung von Titandioxid sind ebenso zu erwarten wie weitere Verfahren rund um das Verständnis des Begriffs der „intrinsischen Eigenschaften“.

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1. August 2025 Martin Ahlhaus